Es war einmal... Wer nicht hören will …
- 4 Sep 2023
- Katrin Bamberg - Spinnradmärchen
Es war einmal ein junger König, der heiratete eine Frau, die so schön war, dass selbst die Rosen im Schlossgarten vor Neid ganz blass wurden.
Der König wünschte sich einen Sohn, doch seine Frau schenkte ihm eine Tochter. Der König bebte vor Zorn, schickte Frau und Tochter auf eine ferne Insel und ließ im Land das Gerücht verbreiten, dass die Königin bei der Geburt gestorben sei.
Die Schicksalsgöttinnen zogen empört die Augenbrauen hoch. „Hört er denn nicht seine innere Stimme?“ – „Du meinst, sein schlechtes Gewissen? Es ist ziemlich leise geworden in der letzten Zeit. Im Übrigen sollte es eher DAS GUTE GEWISSEN heißen, weil es nämlich immer die Wahrheit sagt.“, fand die andere Schicksalsgöttin.
Bald darauf heiratete der König erneut und die zweite Frau brachte ebenfalls eine Tochter zur Welt. Auch sie musste die Reise auf eine ferne Insel antreten. Die dritte, die vierte, die fünfte, die sechste …
Seine innere Stimme verstummte. Die Schicksalsgöttinnen beratschlagten und sorgten für eine Lektion.
Im siebten Jahr geriet er an eine Frau, die es mit Durchtriebenheit und Raffinessen durchaus mit ihm aufnehmen konnte. Als sie nun ein Kind unter ihrem Herzen trug, und ein endlos heißer Sommer die Mauern das Schlosses aufgeheizt hatte, bat sie den König: „Lass mich mit meiner Zofe in die Sommerresidenz reisen. Ein wenig Abkühlung wird mir alles erleichtern.“ So fuhr sie in die Frische der Berge.
Als die Zeit der Geburt nahte, erreichten die Boten des Königs die Residenz und sollten Kunde bringen. Drei Tage und drei Nächte warteten sie vor dem Gemach der Königin. Alsdann hörten sie das Neugeborene weinen und die Zofe jubeln. Mit Tränen in den Augen stand sie vor den Boten: „Sagt dem König, der Himmel ist gnädig mit ihm und hat seinen Wunsch erfüllt. Er hat dem Königreich einen Prinzen geschenkt.“
Der König wusste sich kaum zu fassen und als die Königin mit dem Kind zurückkehrte, empfing er sie feierlich. Das Königspaar zeigte sich auf der Terrasse und der König hielt stolz den Thronfolger hoch. Die Untertanen jubelten und das ganze Land erlebte ein Freudenfest.
Doch schon einige Wochen später wurde auf Befehl des Königs ein Teil der Stadt niedergerissen, um dort einen Palast mit Garten für den Prinzen zu errichten. Die Bewohner der kleinen armseligen Hütten weinten. Doch die Soldaten des Königs peitschten sie aus der Stadt. Schneller als ein Wimpernschlag kann sich das Glück in Unglück verwanden.
Die Schicksalsgöttinnen, die das Geschehen beobachteten, schüttelten die Köpfe und sahen sich gezwungen einzugreifen. Sie straften den König damit, dass er sein Gehör verlor. Mitten in der Audienz, als der Saal gefüllt war mit hunderten von Kaufleuten und Gelehrten, packte sich der König am Kopf und schrie: „Meine Ohren! Meine Ohren!“ Voller Schmerz taumelte er durch den Thronsaal und fiel ohnmächtig zu Boden. Von diesem Tag an konnte er nichts mehr hören. Doch betrübte ihn das nicht, denn er war von der Freude über seinen Sohn vollkommen erfüllt.
Botschafter mussten alle Nachrichten für den König so lange wiederholen, bis er das Wesentliche von den Lippen abgelesen hatte. So konnte er nach wie vor regieren.
Das Land lebte in Reichtum und Fülle. Die Bauern hatten reiche Ernte, denn der Himmel gab Regen für die Felder und Wärme für die Früchte. Sieben Jahre währte das Glück. Doch folgten darauf drei Jahre der Dürre. Die brachten dem Land Elend und Tränen. Der König jedoch freute sich an seinem Sohn, der mittlerweile heranwuchs und bei Wettkämpfen sein Geschick im Bogenschießen und Reiten bewies. Er schrieb Gedichte und spielte verschiedene Instrumente. Nur vor dem Wasser war er sehr scheu. Wenn die anderen am See spielten und schwimmen gingen, hielt sich der Prinz fern.
Die Dürre im Reich hielt an und die Not wurde groß. Der König gab den Befehl, das Nachbarland zu überfallen, plünderte und brandschatzte. Beutelüstern ließ der König sämtliche seiner Untertanen als Soldaten jahrelang in den Krieg ziehen. Er selbst wurde von seinen Leibwächtern geschützt. In all den Jahren war der Prinz längst zu einem jungen Mann herangewachsen.
Der König feierte zwar Siege über viele andere Länder, doch in seinem eigenen Land herrschte große Unzufriedenheit. Seine Untertanen versammelten sich vorm Schloss. Sie beklagten den Verlust ihrer Söhne und verfluchten den König, wenn er auf die Terrasse trat. Die geballten Fäuste hielt der König allerdings für friedlich winkende Hände und winkte fröhlich zurück. Der König ließ sich eine Schale mit Silbermünzen bringen, nahm eine Handvoll und warf sie über die Brüstung. Doch war er ungeschickt und ein guter Teil der Münzen landete auf der Terrasse. Die Leibwächter bückten sich gierig nach den Münzen und in diesem Augenblick stand der König das erste Mal seit Jahren ungeschützt. Ein Pfeil traf ihn mitten ins Herz und er sank zu Boden.
„Der König ist tot!“, rief der Minister. Die Untertanen jubelten. Nun lag der König da und die Schicksalsgöttinnen gaben ihm zurück, was sie ihm zu Lebzeiten genommen hatten: das Gehör. Er hatte es ja seit vielen Jahren nicht gebraucht, seine Ohren waren fast wie neu. Und da er auch sein Gehirn nicht über alle Maßen abgenutzt hatte, konnte er das Gesagte verstehen.
Der König hörte den Jubel seiner Untertanen und ärgerte sich entsetzlich darüber.
„Da liegt er nun, dieser Idiot!“, hörte der König den Hofnarren. Er wollte ihn eine Ohrfeige geben, doch seine Hand war längst tot.
Der Hofnarr witzelte und alle Bediensteten lachten schallend, statt zu weinen. Der König wollte ihnen in den Hintern treten, doch seine Beine waren tot.
Plötzlich wurde es still. Der König lauschte voller Neugier. Er hörte Schritte. „Die Königin und der Prinz kommen. Ruhe!“, flüsterte der Hofnarr und unterdrückte sein Lachen.
„Oh, nein!“, schluchzte sie. „Mein geliebter Mann. Wie konnte das passieren?“ Der erste Minister antwortete: „Wir habe ihn immer gewarnt, er solle sich nicht öffentlich zeigen. Aber ihr wisst, dass er nie auf uns hören wollte. Die Leibwächter bückten sich nach den Münzen. Wir hatten dem König immer geraten, er solle die Leibwächter angemessen bezahlen. Doch der König hörte nicht auf uns. Welcher arme Mann hätte nicht nach dem Geld gegriffen? In diesem Moment traf ihn der Pfeil. Hätte meine Hand ihn retten können, ich hätte sie vor seine Brust gehalten.“ Der Minister verneigte sich tief vor der Königin und trat einen Schritt zurück.
Der König hatte ihn vor seiner Rede noch schallend lachen gehört und hätte nun am liebsten geschrien: „Du Heuchler!“. Doch der Mund des Königs war tot.
Da trat der Prinz heran: „Und ich? Wie oft wollte ich mit dir reden, dir alles offenbaren.“ Der König hörte Liebe in der Stimme und tiefe Trauer. „Ich wollte dir immer die Wahrheit sagen, denn ich bin eine FRAU! Ihr alle habt ihm gehasst und ihn untertänigst gedient. Ich aber habe ihn geliebt! Alles habe ich für ihn gemacht, damit er stolz ist auf mich. Als er mich mit den schönsten Frauen des Landes verheiraten wollte, dachte ich mir eine Lüge nach der anderen aus, um die Frauen abzulehnen. Manchmal wünschte ich mir sogar den Tod, damit er niemals von dieser großen Lebenslüge erfährt. Und jetzt, wo ich es ihm sagen will, kann er mich nicht mehr hören.“
Der König hörte es wohl und empfand einen schrecklichen Schmerz, der ihn bis dahin fremd war. Wie gern hätte er seiner Tochter etwas gesagt, doch sein Mund war längst tot. Der Schmerz war so gewaltig, dass zwei Tränen aus seinen toten Augen entrinnen konnten und über seine Wangen rollten.
Auf den Trümmern falscher Entscheidungen entsteht das Leben zum Glück immer wieder neu. So existiert von diesem Königreich nichts mehr und von dem Schloss findet man bestenfalls noch die Mauerreste. Wir aber wissen, dass es gut ist, genau hinzuhören.
Erzählfassung: Katrin Bamberg