Es war einmal ...
- 2 Jan 2023
- Katrin Bamberg - Spinnradmärchen
Raunächte
So bezeichnen wir die Zeit zwischen Weihnachten und den 6.Januar – dem Tag der Heiligen Drei Könige. Der dunkelste Tag, die Wintersonnenwende liegt bereits hinter uns und nun kehrt das neugeborene Licht zurück. Langsam und ganz zart wachsend darf es im Schoß der Erde schlummern, während die kälteste und härteste Zeit des Winters noch vor uns liegt.
In alten Zeiten wussten die Menschen, was zu tun war. Sie ahnten, dass es an der Zeit war, sich zu bedanken und um Segen für das neue Jahr zu bitten.
Eine dieser alten Frauen wohnte am Ende des Dorfes in einem schlichten Häuschen mit einem kleinen Garten und üppigen Kräuterbeeten. Diese alte Frau hörte gut zu, was der Wind sprach und was die Bäume flüsterten. Sie erinnerte sich an die alten Bräuche, hatte die Stube blitzeblank geputzt, alles weggeräumt, was nach Arbeit aussah. Sogar das Spinnrad stand in der Ecke und alles war hübsch weihnachtlich gemacht.
Als nun die Raunächte begannen, ging sie zu ihrem Mehltopf, fasste hinein, lief hinter das Haus und warf mit Schwung diese Handvoll Mehl in die Luft. Der Wind nahm das Mehl und trug es davon:
„Wind! Nimm dir das Deine und lass du mir das Meine!“, rief sie.
Dann ging sie hinein in die warme Stube, schnitt ein Stück Brot ab und öffnete die Ofentür. Sie legte das Brotstückchen in die Glut des Herdfeuers, das Feuer flammte auf und züngelte. Da sprach sie:
„Feuer! Lass es dir gut schmecken und tue uns nicht das Haus anstecken!“
Wieder lief sie hinaus, in der Hand eine Prise Salz. Gerade so viel, dass es in der Handfläche eine winzige Mulde füllte. Sie trat an den Brunnen, ließ das Salz in den Brunnen rieseln und sprach:
„Wasser! Nimm diese Speise hier von mir, gib kühles Wasser für Mensch und Tier.“
Draußen ging sie zum großen Nussbaum, stellte ein Laternchen auf und stellte eine Schüssel mit süßem Milchbrei dazu.
„Geister der Natur! Schützt Feld, Wald und Flur.“
Auf die Kräuterbeete und Gemüsebeete streute sie Samen und Körner und bedachte sie mit guten Worten:
„Erde! Nimm die Samen und die Körnlein, lass das Jahr recht fruchtbar sein.“
Im Stall ging sie zu all ihren Tieren, brachte Brot und Salz. Sie streichelte sie sanft, strich der Kuh mit einem immergrünen Zweig über den Rücken, dann über den Bauch und die Beine und sprach zu ihr:
„Ich wünsche dir Gesundheit und ein schönes Kälbchen. Und genug Milch für das Kälbchen und für uns.“
Als sie alle bedacht hatte, sich bei allen bedankt hatte und ihre Wünsche ausgesprochen hatte, holte sie ein weißes Tischtuch, so rein wie ihre Seele und lief zu dem Hollerbusch, der neben dem Haus wuchs. Dort deckte sie ein kleines Tischlein und legte darauf eine weiße Semmel, ein Schälchen Honig und stellte einen Becher frischen Kräutertee dazu.
Als alles getan war ging sie zurück in ihr Haus, setzte sich gemütlich an den Herd und wenn nun jemand auf den Hof kommen würde, dann sollte niemand anderes draußen sein. Es dauerte nicht lang und wären wir dort gewesen, so hätten wir die schöne Frau gesehen in ihrem langen weißen Kleid. Darüber trug sie einen Mantel, der bis zum Boden reichte. Er schwang wie eine Glocke, so vornehm und schön. Doch niemand soll das sehen. Diese Nacht gehörte ihr ganz allein: der Frau Holle - der großen Göttin.
Sie streichelte zart über die dürren Äste des Strauches, der ihren Namen trug. Diesen Strauch hatte sie zum Gehilfen der Menschen gemacht. Er wachte über den Hof, schützte Menschen und Tiere und schenkte den Familien jedes Jahr reichen Segen: im Frühling mit tausenden weißen Blüten, welche die Frauen zu allerlei Speis und Trank zu verarbeiten verstanden. Übers Jahr wuchsen kleine schwarze Beeren am Strauch und waren voll mit rotem Saft, der Krankheiten vertrieb und den Menschen wieder zu Kräften verhalf. Doch nun stand er schweigend und reckte seine Äste im Mondlicht. So reicht er nämlich der Frau Holle die Hand. Ganz still war es und der Mond ließ den Schnee, der über allem lag, glitzern und leuchten, wie tausende Kristalle.
Wären wir dort gewesen, dann hätten wir aber auch etwas gehört. Die feinen zarten Stimmchen. Hell und engelsgleich sangen sie nämlich unter dem schwingenden Mantel der schönen Frau. Das waren die Seelchen, die kleinen Seelchen, die immer wieder unter ihrem Mantel Schutz suchten und neugierig wieder hinausschlüpften, wenn sie sich einem Haus näherten. Als die große Frau nun an dem Tische stand und von dem Tee trank und von den Speisen aß, da begaben sich die Seelchen zu den Fenstern und schauten in das Haus. Sie wollten sehen, ob dort nicht ihre Mutter wäre, ihre nächste Mutter. So geschieht das nämlich, dass in dieser Zeit die Seelen ihr neues Zuhause suchen. Und dann, wenn es an der Zeit ist, dann kommen sie wieder. Als sie sich gestärkt hatten, hörte man wie die Stimmen sich entfernten und leiser wurden. Sie zogen weiter und waren bald verschwunden.
Lassen wir sie ziehen! Möge das neue Jahr viele schöne und ungeahnte Segnungen für uns alle bereithalten!
Herzliche Grüße
Katrin Bamberg
Die Erzähltermine:
Donnerstag 05.01.23 19 Uhr Theater der 2 Ufer Kehl Raunachtszauber
Samstag 07.01.23 11 Uhr Mediathek Kehl Kaminzauber für die Familie
Freitag 13.01.23 19 Uhr Kirche Sand Wunschpunsch
Sonntag 22.01.23 15 Uhr Theater der 2 Ufer Kehl Sonntagsmärchen
Sonntag 05.02.23 15 Uhr Theater der 2 Ufer Kehl Sonntagsmärchen
Freitag 10.02.23 19 Uhr Kirche Sand Wunschpunsch