Katrin Bamberg - Spinnradmärchen

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Wer schenkt, muss auch teilen können

  • 8 Dez 2022
  • Katrin Bamberg - Spinnradmärchen

Weit von hier lebte einst ein Bauer, karg war sein Lohn, viel musste er seinem Gutsherrn abgeben. Und weil er reichlich viele hungrige Mäuler zu stopfen hatte, blieb ihm nur wenig.

Es ging auf Weihnachten zu. Eine einzige Gans hatten sie übrig, nur gab es zu dem Tier weder Brot noch Kartoffeln, selbst das Salz fehlte. Ein Jammer war das. Wie der Bauer nun die Gans geschlachtet, gerupft und ausgenommen hatte, dachte er: „Schönes Fleisch ist es schon, aber ohne Kartoffeln oder Brot. Nicht mal gesalzen! Ach, dann soll der Gutsherr sie nun auch noch haben!“ Die Frau erschrak, die Kinder weinten und der Bauer lief mit der geschlachteten Gans unterm Arm hinüber zum Gutsherrn.

Die Herrschaft stand im Eingang versammelt, schön gekleidet, in den Händen hielten sie kristallene Gläser mit edlem Wein gefüllt. Der Gutsherr, seine vornehme Frau, zwei starke Söhne und zwei bildhübsche Töchter. Sie erwarteten ganz gewiss hohe Gäste zum Fest. Da platzte der Bauer herein, das tote Tier unter dem Arm. Er verneigte sich und sprach: „Die möchte ich hierlassen, zur Verehrung der Herrschaft. Vielleicht wird sich der Gutsherr dankbar zeigen und uns Brot und Kartoffeln dafür schenken. Dann würden die Kinder wenigstens an Weihnachten satt werden.“ – „Ich danke dir sehr“, sprach der Gutsherr „du scheinst dich mit der Gerechtigkeit auszukennen. Vielleicht willst du uns zeigen, wie man ein solches Tier gerecht unter uns allen hier teilt. Gelingt es dir, mir eine überzeugende Variante des Teilens zu zeigen, soll es dein Schaden nicht sein. Gelingt es dir aber nicht, so lasse ich die auspeitschen.“

Alle schauten mit großen Augen. Still war es, dass man hätte die Flöhe husten hören können. Der Bauer nahm sein Messer vom Gürtel und trennte der Gans den Kopf ab, überreichte ihm dem Gutsherrn und sprach: „Du bist das Oberhaupt der Familie, dir gebührt der Kopf.“

Dann trennte er Bürzel ab und reichte ihm der Herrin: „Du sitzt zu Hause und wachst über die Wirtschaft. Deshalb bekommst du den Allerwertesten der Gans.“

Darauf schnitt er die Füße ab und reichte jedem Sohn eines: „Ihr werdet in die Fußstapfen eures Vaters treten, deshalb bekommt ihr die Füße.“

Schließlich trennte er die Flügel ab und reichte sie den Töchtern: „Ihr beiden werdet groß und eines Tages das Nest verlassen, um eure eigenen Familien zu gründen. Euch gehören die Flügelchen.“

Der Bauer schaute in die erstaunten Gesichter und sprach: „So können alle zufrieden sein! Dann nehme ich den Rest der Gans.“ Der Gutsherr begann aus vollem Halse zu lachen. Er beschenkte den Schlauberger mit einem Korb voller Gemüse, einen Sack Kartoffeln und drei Broten. Zufrieden kam der Bauer bei der Frau und den Kindern an. Das gab ein Fest, glaubt es nur. Die Geschichte musste der Bauer wieder und wieder erzählen.

Natürlich erfuhr davon ein anderer Bauer. Der hatte nach dem Fest noch fünf stattliche Gänse im Stall und dachte bei sich. „Wenn ich die auf schlaue Art beim Gutsherrn vermehre, dann bin ich endlich reich.“ Schnell waren die Gänse geschlachtet und er trug sie zum Gutsherrn. „Ich bringe aus Verehrung meine letzten fünf Gänse.“ In Gedanken rechnete er schon aus, was er dafür wohl bekommen würde. „Nun, sprach der Herr, euer Geschenk freut und ehrt mich gleichermaßen. Doch wie gedenkt ihr dieses Geschenk gerecht aufzuteilen?“ Der Bauer überlegte und probierte, legte eine Gans für den Bauern, eine für die Frau beiseite, da reichte es nicht für die Kinder. Er konnte es drehen und wenden, fünf Gänse für sechs Personen, das ging nicht auf. Er würde obendrein leer ausgehen.

Der Gutsherr ließ den armen Bauern holen: „Teile sie gerecht auf!“, befahl der Herr. Der arme Bauer nahm eine Gans, überreichte sie dem Gutsherrn und seiner Frau und sprach: „Bitte sehr, nun seid ihr zu dritt.“ Die nächste reichte er den Söhnen: „Auch ihr seid nun zu dritt.“ Das dritte Vögelchen überließ er mit ähnlichen Worten den Töchtern. Dann nahm er die beiden Übrigen, eins links, eins rechts und sprach: „Jetzt sind wir auch drei! Das ist gerecht oder etwa nicht?“

Der Gutsherr bog sich vor Lachen. „Das sind wahre Helden: diejenigen, die einen klugen Kopf bewahren und auch in schwierigen Zeiten den Humor nicht verlieren.“ Für so einen klugen Rat bekam der arme Bauer ein Säckchen gefüllt mit goldenen Münzen. Sagt selbst, das war doch gerecht!

(Aus: Heitere Märchen aus aller Welt, Boje-Verlag Stuttgart)

 

Erzähltermine im Advent:

Sonntag 10.12.2022 16 Uhr Schaunburg Oberkirch
Sonntag 11.12.2022 15 Uhr Theater der 2 Ufer
Donnerstag 15.12.2022 19:30 Uhr Alpha-Buchhandlung Offenburg
Freitag 16.12.2022 18 Uhr Hügelsheimer Adventskalender